„München fühlte sich richtig an“

Viviana Wilhelm ist seit der Geburt gehbehindert. Doch das hat sie nicht davon abgehalten, eine Familie zu gründen, zu studieren und bei der Stadt Karriere zu machen

Viviana Wilhelm | Kreisverwaltungsreferat, Standesamtsaufsicht

Viviana Wilhelm, im Standesamt an der Ruppertstraße in München
Foto © Jürgen Liebherr

Vor 23 Jahren saß Viviana Wilhelm mit ihrer Mutter nachts im Auto. Sie hatten eine lange und besondere Reise vor sich. Es ging von ihrem Heimatdorf Zentendorf bei Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, ganz in den Süden – nach München. Die 600-Kilometer-Fahrt wäre für Viviana allein zu anstrengend gewesen. Zwar war der Wagen behindertengerecht umgebaut worden, doch die damals 24-Jährige war aufgrund ihrer motorischen Einschränkungen froh, sich die Fahrt mit der Mutter aufteilen zu können. Als die beiden nach sieben Stunden Fahrt morgens die Leopoldstraße entlangfuhren schien die Sonne, ein schöner Tag in München, das sich hier von seiner besten Seite zeigte. „Als wir da auf den Odeonsplatz zufuhren, fühlte sich alles richtig an, irgendwie wie nach Hause kommen“, sagt Viviana Wilhelm beim Gespräch im Kreisverwaltungsreferat, ihrem heutigen Arbeitsplatz.

Sie erzählt, wie sie dann aufgeregt den Pförtner des Rathauses nach dem richtigen Aufzug zur Zimmernummer des Vorstellungsgesprächs fragte. Im dritten Stock saß die Ausbildungsabteilung des Personal- und Organisationsreferats. Es lief gut. Die Personaler*innen erklärten gegen Ende standardmäßig, dass man sich melden würde. Viviana Wilhelm zögerte jedoch kurz beim Rausfahren mit ihrem Rollstuhl. „Ich drehte mich um und fragte frech, wann ich mit einer Zusage rechnen könne“. Tatsächlich hatte sich die junge Sächsin noch parallel bei der Fachhochschule Meißen fürs Studium Diplom-Verwaltungswirt*in beworben. Irgendwie muss das forsche Auftreten bei der Bewerbungsrunde Eindruck gemacht haben und nach einer kurzen Wartezeit draußen gab ihr der stellvertretende Ausbildungsleiter die Zusage.

Euphorisch – und noch ohne die ganzen Konsequenzen dieses Schrittes durchdacht zu haben – fuhr sie mit dem Rollstuhl quer über den Marienplatz, um ihrer nicht minder überraschten Mutter alles zu erzählen. „Natürlich hat meine Mama da schon geschluckt, im Wissen ihre älteste Tochter quasi zu verlieren“, sagt Viviana Wilhelm. Aber sie ergänzt gleich wohlwollend, dass ihre Mutter immer ermutigend war und sie nie in Watte gepackt hätte.

„Wir haben uns selbst nie als behindert wahrgenommen“

Geboren wurde Viviana Wilhelm 1976 in Görlitz, in der damaligen DDR. Leider gab es bei ihrer Geburt im Krankenhaus Schwierigkeiten: Als Frühchen war ihre Lunge nicht voll ausgebildet. Das wiederum führte zu einem extremen Sauerstoffmangel, der dann eine Unterversorgung eines Hirnareals verursachte: Den Bereich, der die Bewegung steuert. Die Folgen waren Spastiken und eingeschränkte Bewegung. So konnte sie als Kleinkind immer nur am Boden robben, bis sie schließlich mit einem Rollator Laufen lernte.

Aufgewachsen ist Viviana Wilhelm im benachbarten 150-Einwohner-Dorf Zentendorf. In der kleinen Ortschaft war sie mit ihrem Rollator oder Rollstuhl nichts Besonderes. Alle kannten Viviana nun mal so. Nur wenn sie in die Großstadt fuhr, empfand sie, dass sie neugierig gemustert wurde.

Mit sieben Jahren besuchte sie die erste Klasse einer neu gegründeten Einrichtung für körperlich Behinderte in Hoyerswerda. Solche Internate, die speziell für Kinder mit Lähmungen, Contergan-Schäden oder Sehbehinderung ausgerichtet waren, gab es damals einige in der DDR. Wir waren anfangs nur sechs Kinder in der Klasse. Wir haben uns selbst aber nie als behindert wahrgenommen“, sagt Viviana Wilhelm. „Die Schulzeit war für mich eine positive Zeit – auch wenn der Wochenanfang heftig war: Wir sind montags um 4.30 Uhr aufgestanden und dann mussten wir knapp zwei Stunden mit der Bahn samt Rollstuhl zum Internat fahren. Und somit war ich schon als kleineres Mädchen sechs Tage ohne meine Eltern.“ Im Nachhinein ist sie aber überzeugt, dass diese Erfahrung sie stark, teamfähig und selbstbewusst gemacht hat.

Viviana Wilhelm wollte dann als Jugendliche unbedingt Abitur machen. Nach der 10. Klasse ging sie also aufs Gymnasium in Görlitz. Hier hat sie versucht, weniger den Rollstuhl und mehr ihre Unterarmgehstützen zu benutzen. Doch vieles lief unrund, sie fühlte sich gestresst und war dadurch oft krank. Ein Schulwechsel nach Rothenburg, Oberlausitz brachte Besserung. Zumal diese Schule barrierefrei war. Viviana Wilhelm absolvierte 1996 erfolgreich das Abitur.

Der anschließende Besuch beim Jobcenter war leider eher ernüchternd. Der Eignungstest ergab nur zwei potenzielle Berufsfelder: Entweder Landschaftsgärtnerin oder Beamtin. Zudem schränkte der Amtsarzt noch ein, dass er Viviana keinesfalls eine normale Acht-Stunden-Stelle zutrauen würde. Viviana Wilhelm erinnert sich: „Mich hat damals auch so geärgert, dass der Arzt immer nur meine Mutter angeschaut und angesprochen hat, mich quasi ignoriert hat. Das mag ich bis heute nicht, wenn Leute über mich hinwegsehen.“ Die damals 20-Jährige sollte eine Ausbildung in einem Berufsbildungswerk machen, wo junge Menschen mit Behinderung eine außerbetriebliche berufliche Erstausbildung oder Berufsvorbereitung absolvieren. Ganz konkret standen ihr „Technisches Zeichnen“ oder „Verwaltungsfachangestellte“ zur Auswahl. Man ahnt es: Viviana Wilhelm entschied sich für letzteres. Die dreijährige Ausbildung hat ihr damals viel Spaß gemacht. Und auch das Praktikum im Dresdner Sozialamt lief gut, auch weil sie dort zu keiner Zeit Vorbehalte der Kolleg*innen wegen ihrer Behinderung spürte.

Görlitz – Hof – München

Nach der Ausbildung im Berufsbildungswerk war für Viviana Wilhelm klar, dass ihr das Berufsfeld Spaß machte, die Verwaltung, der Umgang mit Gesetzen et cetera – aber das war ihr nicht tiefgreifend genug. Sie wollte unbedingt noch ein Studium draufsetzen. Und so bewarb sie sich an der Fachhochschule Meißen für das Studium zur Diplom-Verwaltungswirt*in.

Just zu dieser Zeit – es war das Jahr 2000 – rief ihr Onkel aus der U-Bahn in Berlin an: „Du, was ich hier gerade auf einer Werbung gesehen habe: Die in München bieten auch ein Studium für den gehobenen Dienst an. Wäre das nichts für dich?“ Viviana Wilhelm zögerte nicht lange und absolvierte bald darauf den Einstellungstest der Landeshauptstadt München.

Angehende Münchner Diplom-Verwaltungswirt*innen lernen und studieren in Hof an der Hochschule für den öffentlichen Dienst in Bayern. Für Viviana Wilhelm perfekt gelegen, genau in der Mitte zwischen Görlitz und München. Nach der ersten Phase in Hof, von September bis Mai 2001, hatte die Studentin das Glück, eine Dienstwohnung in München zu bekommen. Zusammen mit ihrem Mann, den sie im Berufsbildungswerk kennengelernt hatte, zog sie in eine Zwei-Zimmer-Wohnung in Untergiesing-Harlaching. „Die Wohnung war damals nicht rollstuhlgerecht. Aber das störte mich nicht sehr“, sagt Viviana Wilhelm. Und ergänzt: „Ich wohne auch heute in einem nicht barrierefreien Mietshaus. Damit komme ich aber gut klar, denn ich bin ja nicht unbedingt auf den Rollstuhl angewiesen, sondern wechsle auch wenn nötig auf meine Unterarmstützen.“

Herausforderung Außendienst

Nach der ersten Studiumsphase am Hofer Campus ging es für Viviana Wilhelm dann ins erste Praktikum, in das Sozialreferat am Orleansplatz. Drei Monate arbeitete sie im Bereich Sozialplanung. Das zweite Praktikum gefiel ihr aber noch besser. Zunächst war sie im Standesamt, im Heiratsbüro: Hier war sie für Anmeldungen und Prüfungen zu einer bevorstehenden Eheschließung zuständig. Der zweite Abschnitt war dann in der Gaststättenabteilung: Man hatte sie dort für die Bezirksinspektion eingeteilt. Wie so oft im Gespräch schmunzelt Viviana Wilhelm beim Schildern der Situation, denn Sarkasmus oder Verbitterung sind ihr fremd. Denn es lag auf der Hand: „Mit dem Rollstuhl wäre der Job, hauptsächlich im Außendienst, schon etwas zu schwer für mich geworden“, sagt sie. „Aber die Kollegin von der örtlichen Ausbildung war einfach kreativ und hat mich für die Kontrolle der Freischankflächen im Außendienst eingeteilt. Das war interessant und auch für mich mit meiner Einschränkung gut machbar.“

Viviana Wilhelm ist eher ein lockerer Typ, wenn es um das Thema Behinderung geht. „Mich stört es nicht, wenn sich mal jemand wegen meines Rollstuhls oder des Themas Behinderung verplappert. Beispielsweise wenn es heißt ‚wollen sie mitgehen?‘ – wo es doch korrekter ‚mitfahren‘ heißen müsste … Mir ist lieber, die Leute sind locker, unverkrampft im Umgang mit Rollstuhlfahrern.“  Es sei allerdings etwas anderes, wenn sie bewusste Respektlosigkeit spüre. Das ginge gar nicht.

„Ja, ich will“ – zum Standesamt

Viviana Wilhelm
Foto ©: Jürgen Liebherr

Das dritte und letzte Praktikum absolvierte Viviana Wilhelm schließlich wieder im KVR, Standesamt, Geburtenbüro. Und wie es häufig bei der Stadt München ist: Der letzte Praktikumsplatz wird der neue feste Arbeitsplatz, nach dem Studium. Seit Dezember 2003 ist Viviana Wilhelm also offiziell Standesbeamtin. Für sie war es einfach ein gutes Gefühl, an einen vertrauten Ort anzufangen.

Schon bald wurde sie von ihrem Chef gefragt, ob sie sich vorstellen könne, auch Trauungen durchzuführen. Ohne Zögern bejahte Viviana Wilhelm. Erst zuhause habe sie kurz gezweifelt: „Denn eigentlich hasse ich es, vor vielen Leuten zu sprechen. Wie damals in der Schule beim Referat“.

Doch sie zog es durch und lernte schnell die positiven Aspekte dieses ungewöhnlichen Jobs lieben. Einmal pro Woche durfte sie einen Block von fünf bis sechs Trauungen übernehmen. „Man zieht sich gut an, in den Anfangsjahren sogar mit einem blauen Talar, mit schicker Kleidung. Und wartet auf interessante Menschen, die zur Trauung kommen.“

Im September 2013 wechselte sie zur Urkundenstelle. Dort lockte eine Führungsposition und neue Herausforderungen. „Ich wollte mich weiterentwickeln, war dann auch Ausbilderin. Trauungen gehörten aber weiterhin zu meinen Aufgaben.

Seit 2020 ist Viviana Wilhelm offiziell keine Standesbeamtin mehr. Sie arbeitet in einem Dreierteam im übergeordneten Bereich Standesamtsaufsicht und Namensänderung. Dort kümmert sie sich unter anderem um die Beratung von Standesbeamten-Kolleg*innen. Denn außer dem reibungslosen Tagesbetrieb gibt es auch komplexe Sachverhalte, in denen eine rechtliche Expertise von Nöten ist. Genau das reizt Viviana Wilhelm an ihrer Stelle: „Ich liebe es, mich in komplizierte Fälle reinzufuchsen. Das hat oft etwas von Detektiv-Arbeit, wenn man beispielsweise das Geburtenregister aufgrund von Namensänderungen berichtigen muss.“

Das Schönste an ihrer jetzigen Arbeit sei, dass der Job wirklich Spaß macht. Das Team ist klein, die Kolleg*innen nett und man kann viele Dinge selbst entscheiden, etwas voranbringen für die Stadt München.

Schwangerschaft im Rollstuhl

In den Gesprächen mit Viviana Wilhelm fällt auf, wie ruhig und zugleich zielstrebig-konsequent die 46-Jährige ist. Und man spürt, wie wichtig ihr die Arbeit ist. Auch privat ist sie gut angekommen. Ihren Mann hat sie nach sieben Jahren Zusammenleben in München geheiratet. Und natürlich stand auch irgendwann das Thema „Kinder“ auf der Agenda. „Wir haben viel geredet, diskutiert, haben uns gefragt, ‘geht das denn mit der Schwangerschaft?‘“, erzählt sie beim letzten Interviewtermin. Eine erbliche Belastung war schließlich nicht ganz auszuschließen. Zudem gab es da diese eigene schwere Vorgeschichte im Hinterkopf. Und eine Schwangerschaft im Rollstuhl war sicher nicht ganz einfach. Aber die beiden haben sich dann ganz klar für ein Kind entschieden. Ihr Mann übernahm das erste Jahr die Elternzeit. Viviana Wilhelm nahm lediglich die Zeit des Mutterschutzes in Anspruch. „Mein Mann und ich haben zusammen immer für alles gute Lösungen gefunden.“

Der letzte Gesprächstermin im KVR in der Ruppertstraße geht zu Ende. Pünktlich um zwölf wird Viviana Wilhelm zum Mittagessen abgeholt. Heute nicht von Kolleg*innen, sondern von ihrem mittlerweile 16-jährigen Sohn.

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