Energietanken in Russland

Tatiana Dubs arbeitet im Sozialreferat für die Wirtschaftliche Jugendhilfe. Im Portrait erzählt sie von der Heimat Russland und vom ungewohnten Leben in Deutschland.

Tatiana Dubs | Sozialreferat - Wirtschaftliche Jugendhilfe

Tatiana Dubs arbeitet im Sozialreferat für die Wirtschaftliche Jugendhilfe
Tatiana Dubs arbeitet im Sozialreferat für die Wirtschaftliche Jugendhilfe

Mindestens einmal im Jahr besucht Tatiana Dubs ihre alte Heimat in Russland. In der Regel fliegt sie Anfang Januar nach Stupino, eine Kleinstadt 88 Kilometer südlich von Moskau. Dort lebt ihre ein Jahr jüngere Schwester. Alle nahen Verwandten, einschließlich ihrer Eltern, kommen dann dorthin, um gemeinsam Weihnachten zu feiern. Nach russisch-orthodoxer Tradition ist der Hauptfeiertag am 7. Januar. Tatiana Dubs liebt den „richtigen“, kalten Winter in Russland. „Wenn ich da bin, fühle ich mich wie in meine Kindheit zurückversetzt. Ich spiele dann mit meiner kleinen Nichte draußen im Schnee – ja, und fühle mich selber fast wie ein Kind“, sagt die 32-Jährige. Bei diesen wichtigen Besuchen habe sie immer gute Gefühle, erzählt Tatiana Dubs im Gespräch. „Es ist so, als kehre ich zu meinen Wurzeln zurück. Und damit tanke ich Energie für das ganze bevorstehende Jahr, werde mir bewusst, was wichtig und was unwichtig ist.“ Und das geht schon so seit rund zehn Jahren. Denn so lange lebt die heute in Puchheim wohnende „Exil-Russin“ nicht mehr in ihrer Heimat.

Direkt nach dem Abitur, ist sie mit 17 ausgezogen – in die große weite Welt, was damals erst einmal „nur“ die fast eine Million Einwohner zählende Wolga-Stadt Saratow war. Dort studierte sie an der Wolga-Akademie des Staatsdienstes und bestand das Diplomstudium mit Schwerpunkt öffentliche und kommunale Verwaltung mit Auszeichnung. „Diese fünf Jahre waren die beste Zeit meines Lebens“, sagt Tatiana Dubs, mit einem kleinen Funkeln in ihren klaren, leuchtend blauen Augen. Sie habe in Saratow viele Freunde gefunden, mit denen sie heute noch in Kontakt ist - und hier haben sich viele Türen für sie geöffnet. Denn das „Stolypin Wolga-Institut für Verwaltung“ (so der offizielle Name) hatte eine Städte-/Hochschul-Partnerschaft mit der Hochschule für öffentliche Verwaltung und Finanzen Ludwigsburg. Im dritten Studienjahr durfte Dubs dann an einer Delegationsreise in die Baden-Württembergische Stadt teilnehmen. Nach dem Auszug von Zuhause war das der zweite wichtige Schritt in ihrem Leben: „Das erste Mal im Ausland! Das war schon ein besonderes Erlebnis. Die erste Reise im Flugzeug, die Menschen, die andere Sprache, das Essen – ja für mich war das eine andere Welt.“ Auch die Deutschen, die sie bei dem einwöchigen Besuch kennenlernte, empfand sie beim einwöchigen Besuch als positiv eingestellt und freundlich.

Die erste Auslandsreise

Aus diesem Grund wollten Tatiana Dubs und ihre Studienfreundin ein Jahr später unbedingt ein längeres Praktikum in Ludwigsburg machen. Die Bewerbung dafür klappte - und so konnten die beiden dann tatsächlich im Frühling 2008 für einen Monat bei der Stadtverwaltung im Rathaus arbeiten. Wieder eine gute Zeit für die damals 21-Jährige: Sie konnte zuvor geknüpfte Kontakte zu Deutsch-Russen verstärken, ja freundschaftliche Beziehungen aufbauen. So machte man zusammen Ausflüge in den Schwarzwald und sogar nach Paris.

In Russland war Tatiana Dubs mittlerweile fest angestellt als Sachbearbeiterin im Kulturamt Saratow. Doch die Stelle lag ihr nicht sonderlich: „Der Job in der Buchhaltung war leider sehr langweilig. Meine Kolleginnen waren alle so ‚erwachsen‘ ...“, sagt Dubs. So überlegte sie und kam zu dem Entschluss, sie würde entweder gern in die Hauptstadt Moskau gehen – oder ein Studium in Deutschland anschließen. Die Entscheidung fiel relativ leicht, da die Städtepartnerschaft mit Ludwigsburg auch den Zugang zu einem zweijährigen Master of Arts Studium in „Europäischem Verwaltungsmanagement“ ermöglichte. War es denn tatsächlich so einfach, als Russin hier in Deutschland zu studieren? Wie sieht es mit der Sprache aus? „Die Bewerbung für das Studium war nicht schwer. Es gab ein Gespräch über Skype. Und im Gegensatz zu heute musste man damals auch keinen expliziten Sprachnachweis vorlegen.“ Tatiana Dubs hatte - wie viele russische Kinder – schon in der Schule einige Deutsch-Stunden gehabt. So richtig gelernt hat sie die Sprache aber erst während des Studiums. „Wenn ich so darüber nachdenke: Eigentlich komisch, denn zu dieser Zeit, während des Studiums, habe ich noch gar nicht an ein Leben in Deutschland gedacht. Aber irgendwie war das vielleicht schon etwas Vorbestimmtes.“ 

Bei den Erzählungen von Tatiana Dubs klingen die ganzen Schritte und Stationen alle irgendwie einfach und fast schon „logisch“. Doch nachgefragt: Wenn man sich vorstellt – als 17-Jährige, damals weg von Zuhause, allein in der Großstadt? „Das ist eigentlich für mich nichts Besonderes gewesen“, erzählt Dubs. „In Russland ist es normal, dass die Kinder in diesem Alter aus dem Hause sollen; eine Ausbildung machen oder studieren.“ Aber war es denn auch so „einfach“, als Russin herumzureisen, ins Ausland zu gehen, dort zu studieren? „Russland hat sich in dieser Zeit sehr geöffnet“, sagt Tatiana Dubs. Im Gegensatz zu der im Ausland verbreiteten Meinung habe es da keinerlei Restriktionen gegeben. Die internationale Zusammenarbeit und der Austausch auf der Verwaltungsebene wurde sehr begrüßt.

Ungewohntes Leben in Deutschland

Während ihrer Probezeit wird Tatjana Dubs von ihrer Kollegin eingearbeitet
Während ihrer Probezeit wird Tatjana Dubs von ihrer Kollegin eingearbeitet

Zurück ins Jahr 2009. Tatiana Dubs fliegt zum Studium nach Deutschland, Ludwigsburg: „Ich werde den Tag, nie vergessen, er hat mein Leben verändert. Ich hatte einerseits damals diese unglaubliche Angst - die ich sonst nie wieder im Leben hatte -, nicht zu wissen, was mich in der Zukunft erwartet. Andererseits spürte ich, dass ich genau das machen musste. Mein Weg führte mich irgendwie nach Deutschland.“

Doch diesmal sollte der Auslandsaufenthalt nicht ganz so unbeschwert sein, wie die Besuche zuvor. Das erste halbe Jahr empfand die Russin als schwerste Zeit ihres Lebens. Alles war ungewohnt: Die Sprache, die Kommunikation war im Alltag doch schwieriger als gedacht. Auch die Mentalität, das Verhalten der Mitstudenten empfand sie als „anders“. Beispielsweise haben die jungen Männer nicht (wie gewohnt) geholfen, ihre Koffer die Treppe raufzutragen. Auch der „Stil“ war anders: Sie und ihre Freundin waren für die Uni-Gemeinschaft viel zu „overstyled“. Aber am schwierigsten war für die Beiden rückblickend reflektiert, dass sich quasi Ihre Rolle änderte. Man stand nicht mehr im Mittelpunkt, war besonderer „exotischer“ Gast, sondern einfach nur eine normale Studentin. Und alle waren eher mit sich selbst beschäftigt. Dubs: „Diese Zeit hat mich jedenfalls gelehrt, mich auf mich selbst zu verlassen, selbständig zu sein.“

Offensichtlich gibt es also doch einen Mentalitätsunterschied zwischen Deutschen und Russen? „Ja, ich habe wirklich etwas gebraucht, diese Art zu verstehen, einschätzen zu können. In Russland ist man zu allererst eher zurückhaltend. Doch dann, wenn man sich öffnet, freundlich ist, bedeutet das, dass man mit dem Gegenüber eine Art Beziehung eingehen will. Mehr von ihm kennenlernen will. Hier in Deutschland haben meine Freundin und ich diese Freundlichkeit daher eher als ‚oberflächlich‘ empfunden, weil ja nichts mehr hinterherkam“, erklärt Tatiana Dubs. Prinzipiell empfinde sie die meisten Deutschen im Vergleich zu Russen als eher rational geprägt, oft mit einer großen Sachlichkeit ausgestattet.

Wichtige Begegnung

Aber nach diesem Lernprozess, wie Tatiana Dubs sehr selbstreflektiert zugibt, wurde es besser: Die folgenden Semester in Kehl und Stuttgart verliefen positiver. Im Praxissemester im Staatsministerium von Baden-Württemberg durfte sie sogar den stellvertretenden Bürgermeister von Moskau herumführen, für ihn übersetzen: „Das war schön, da fühlte ich mich wirklich gebraucht, ja wichtig.“ In diesem Zusammenhang lernte Dubs auch den Leiter des Rechnungsprüfungsamtes der Landeshauptstadt Stuttgart kennen. Im Nachhinein der wahrscheinlich dritte große Schritt beziehungsweise Punkt in Ihrer Lebensgeschichte. Denn dieser vermittelte ihr einen wichtigen Job: Wissenschaftliche Mitarbeiterin und danach Projektkoordinatorin für ein deutsch-russisches Forschungsprojekt zur Korruptionsbekämpfung. Erst dadurch überlegte Tatiana Dubs das erste Mal ernsthaft, auch in Deutschland bleiben zu wollen. Denn bis dato war klar, sie würde nach Russland, konkret nach Moskau zurückkehren. Immerhin lebte auch ihr damaliger Freund in der Kreml-Hauptstadt. Doch die Fernbeziehung und „erste große Liebe“ fiel gewissermaßen der Aussicht auf einen festen Job zum Opfer. Nach Abschluss des Studiums und zugehöriger Masterarbeit („Korruptionsbekämpfung“) bot man Dubs 2010 eine interessante Festanstellung im Rechnungsprüfungsamt Stuttgart an. Rückblickend eine tolle Zeit, in der sie das Gefühl hatte „alles erreichen zu können“.

Heimweh nach Russland

Nach fünf Jahren in Stuttgart bekam sie das erste Mal großes Heimweh, nach den Eltern, den Freunden, der Sprache. Zum Glück begegnete Tatiana Dubs zu dieser Zeit dann ihrem heutigen Mann, Max. Die beiden hatten sich über einen gemeinsamen Freund kennengelernt.  Der Deutsch-Russe Max lebte und arbeitete auch in Stuttgart, als Projektingenieur bei einem großen Autobauer. Doch diese gute aber etwas unsichere Position veranlasste ihn, sich auf eine Festanstellung zu bewerben. Und so entschieden sich die beiden (mittlerweile verheiratet) Januar 2019 das perfektes Jobangebot für Max, von einem bekannten Autozulieferer aus Bayern, anzunehmen und nach Puchheim, nahe München umzuziehen. „Die Jobzusage meines Mannes habe ich bei meinem Heimatbesuch in Russland erfahren“, sagt Tatiana Dubs. „Ich wusste intuitiv, dass das wieder ein neuer richtiger Schritt in Richtung einer Veränderung war - und so habe mich sofort nach Jobs für mich in München umgesehen.“

Letztendlich hat sich die 32-Jährige dann für eine Anstellung bei der Landeshauptstadt München entschieden. Sie arbeitet im Sozialreferat in der Wirtschaftlichen Jugendhilfe und kümmert sich dort um die Anträge, die Unterbringung und die nötigen Unterlagen für unbegleitete minderjährige Jugendliche. Diese kommen in der Regel aus Kriegsgebieten wie Syrien, Afghanistan oder Irak – ohne Papiere – hier in Deutschland an. Im Moment befindet sich Tatiana Dubs noch in der Probezeit. Zwei Kolleg*innen („Patin“ und „Pate“) aus dem Sozialbürgerhaus helfen ihr in der Anfangszeit, sich in die komplexen Abläufe einzuarbeiten. 

In München gefällt es Tatiana Dubs sehr gut. Stuttgart war ihr teils irgendwie zu „eng“. München sei da anders: hier gibt es breite Straßen, große Plätze. Sie genießt den Sonnenaufgang auf dem Weg zur Arbeit mit der S-Bahn. Aber auch speziell ihr Wohnort Puchheim hat viele Vorzüge: „Ich mag die Gegend hier, die Natur, es gibt einen See in der Nähe. Und die Leute sind hier sehr offen. Das mag ich - und komischerweise erinnert mich das hier manchmal angenehm an meine russische Heimat.“ Wenn ihr das nicht langt gibt es immer noch ein anderes „Rückzugsgebiet“: Die klassische russische Literatur. Tatiana Dubs liebt den Schriftsteller Anton Pawlowitsch Tschechow. „Ich glaube, ich bin jetzt in dem Alter, wo ich Antworten auf wichtige Fragen meines Lebens brauche“, sagt Dubs. Und die können die Geschichten von Tschechow ihr immer wieder mal liefern.

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